Immer mehr Kinder in Sachsen sind psychisch auffällig.
Das Arbeiten mit Ton soll Defizite ausgleichen.
Von Stephanie Wesely, Sächsische Zeitung vom 30.01.2016
Der achtjährige Alexander fühlt sich geborgen in seiner Höhle. Von seiner Hyperaktivität und Ängsten ist nichts mehr zu spüren. Auf dem Tisch des Therapieraums steht ein flacher Kasten, ausgestrichen mit heller Tonerde. Daneben eine Schale Wasser.
Was die Kinder damit tun, entscheiden sie selbst. Und das ist das Geheimnis.
Alexander schaut zunächst etwas unschlüssig, er wartet auf Anweisungen oder Aufträge von Entwicklungspädagogin Heike v. C. Lichterfelde.
Doch es kommt nichts. Sie signalisiert ihm nur, dass er mit dem Ton machen könne, was er wolle. Es gebe keine Vorgaben, und er könne nichts falsch machen, sagt sie. Das scheint ihm zu gefallen, denn er hinterlässt sogleich einen Handabdruck. „Er ist im Material angekommen“, deutet die Pädagogin dieses Aufdrücken seines Stempels.
Alexander ist acht Jahre alt und hat Probleme beim Sprechen, in der Schule ist er hyperaktiv und kann sich schlecht konzentrieren. „Deshalb sind wir hier. Wir haben von dieser Behandlungsmöglichkeit gehört und wollen versuchen, ob es Alexander weiterhilft. Er hat schon einige andere Therapien hinter sich. Ohne Erfolg“, sagt seine Mutter. Sie ist allerdings skeptisch, ob die Arbeit mit Ton etwas bewirken kann.
„Die Tonfeld-Arbeit sieht unspektakulär aus, beruht aber auf Erkenntnissen der modernen Hirnforschung. Die Wissenschaft kennt den Zusammenhang zwischen Hand und Verstand“, sagt die Entwicklungspädagogin aus Dresden. Dass sich im Laufe der Evolution 80 Prozent des Gehirns alleine durch Handbewegungen (Haptik) entwickelten, konnte der US-Neurologe Frank Wilson nachweisen:
Die Haptik ist der Basissinn, mit dem Menschen Beziehungen aufnehmen. Die Art, etwas zu begreifen und zu behandeln, prägt von frühester Kindheit an. Ändert sich die Art des Handelns, zum Beispiel durch das Erkennen oder Überwinden von Hemmnissen, so ändert sich auch der Mensch, speziell das Kind, sagt die Wissenschaft. Deshalb hat nicht nur der Kopf Einfluss auf die Arbeit der Hände, auch die Hände können Veränderungen im Kopf bewirken. Darauf beruht die Wirksamkeit der Arbeit im Tonfeld. Einfache Bauwerke können Blockierungen aufweichen.
Hochkonzentriert und ganz bei sich
Das ist auch bei Alexander zu sehen. Bereits ab der zweiten Therapiestunde geht er forsch auf den Tonkasten zu, scheint klare Vorstellungen von dem zu haben, was er schaffen will. Heike v. C. Lichterfelde unterstützt den kreativen Prozess, indem sie erkennt, welches Lebensbedürfnis sich in der Art seines Handelns zeigt. Wie er ins Material greift und was daraus entsteht, gibt Hinweise, ob er Halt, Berührung oder inneres Gleichgewicht sucht. Durch kleine Zwischenfragen spricht sie ihn so an, dass er in seinem Handeln auch findet, wonach er unbewusst sucht.
„Wird am Ton nur gezupft und mit den Fingerspitzen gearbeitet, deutet das auf Distanz hin, meist gegenüber dem Vater“ sagt Heike v. C. Lichterfelde. „Der Umgang mit dem Hautsinn, wie der Ton auf der Haut gespürt wird, sagt hingegen etwas aus über die Mutterbeziehung.“ Manche reiben sich richtig damit ein. „Alexander fehlt sein Vater, das kann ich deutlich erkennen.“ Tatsächlich leben die Eltern getrennt. Um in der haptischen Erfahrung die Beziehungsqualitäten von Vater und Mutter wiederherzustellen, werden Hilfsobjekte wie kleine Plastikfiguren mit einbezogen. Während der Arbeit ist Alexander hoch konzentriert, ganz bei sich und keine Spur von hyperaktiv. „Das erlebe ich oft“, sagt die Entwicklungspädagogin.
„Gerade hyperaktive Kinder wollen ja im Grunde nicht so sein wie sie sind“, erklärt sie. „Die Kinder sind nicht in ihrer Mitte, ihnen fehlt der Halt, die Orientierung. In der Arbeit im Tonfeld lernen die Kinder sich selbst begreifen und stärken damit ihre eigene Autonomie.“ Das hat Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Die Mutter bestätigt: „Alexander hat einen Riesen-Entwicklungssprung gemacht. Er hat weniger Hemmungen beim Sprechen, auch von der Lehrerin wurde ich schon gefragt, ob Alex in Behandlung ist.“ Am liebsten würde sie die Behandlung fortsetzen, doch die Krankenkasse zahlt das nicht.
„Offensichtlich liegt das am fehlenden Wirksamkeitsnachweis“, sagt Professor Veit Rößner, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Dresden. Seiner Meinung nach gibt es einzig für die Behandlung motorischer Störungen gesicherte wissenschaftliche Daten. Dennoch werde auch in seiner Klinik die Ergotherapie abseits dieser klar nachweisbaren motorischen Störungen eingesetzt. Sowohl zu diagnostischen als auch zu therapeutischen Zwecken. Die Klinik führt derzeit eine von der Else-Kröner-Fresenius-Stiftung geförderte Studie zur Wirkung der Ergotherapie bei Kindern mit ADHS durch. Der Bedarf sei da, denn die Zahl der Kinder mit psychischen Auffälligkeiten nehme weiter zu. „Die Ursachen dieser Entwicklung sehe ich unter anderem in der Individualisierung der Gesellschaft und in der Weitergabe von Risikogenen an die Nachkommen.“
„Die Tonfeld-Arbeit ist nicht symptomorientiert, sie trennt nicht zwischen Diagnostik und Therapie“, sagt Professor Heinz Deuser. Er hat die Methode in den 1970er-Jahren entwickelt und bezeichnet sie als tiefenpsychologisch fundierte Kunsttherapie. Heike v. C. Lichterfelde hat viereinhalb Jahre lang eine Ausbildung bei ihm absolviert und drei Jahre praktische Erfahrungen gesammelt. Wie bei Alexander habe sie schon bei vielen Kindern festgestellt, welche Veränderung nur zwölf Therapiestunden auslösen.
Die Therapie kostet zwischen 40 und 50 Euro pro Stunde bei Kindern. Die Arbeit eigne sich aber ebenso für Erwachsene, etwa zur Bewältigung von Lebenskrisen oder zum Aufbau von Selbstvertrauen, so die Entwicklungspädagogin. Teilnehmer erhielten zum Beispiel eine besondere Einsicht in ihre Individualität. Heike v. C. Lichterfelde träumt von einem Tonfeld-Haus in Dresden. Firmenchefs könnten ihren Mitarbeitern Tonfeld-Stunden schenken, etwa um Burn-out vorzubeugen, die Lebenszufriedenheit und damit die Gesundheit im Job zu bessern.